Samstag, 12.01.2019

Flug über die See - neues Land

(Nun doch wieder Lust zum recht ausführlichen Schreiben, mal sehen, wie lange es anhält)

Wir steigen aus am anderen Ende der Welt - Neuseeland. Fühlt sich erstmal gar nicht so erhebend an, dass wir unser ehemals so weit entferntes Ziel nun erreicht haben. Waren ja auch viele Etappen, die uns hierher geführt haben. Und zum Schluss nur ein kleiner Hüpfer von Australien. Vielleicht ist es nochmal anders, wenn wir auf unserer Route über die Südinsel an den Ort kommen, der nun wirklich am Weitesten von unserem Zuhause in Deutschland entfernt ist und dann von dort den "Rückweg" antreten. Wir werden berichten.

Nelleke ist unsere herzliche und offene Gastgeberin die ersten 4 Tage in diesem Land. Sie holt uns freundlicherweise vom recht weit entfernten Flughafen ab. Wir fahren um die Stadt Christchurch herum, sehen also davon erstmal nichts, wohnen in einem Außenbezirk am Strand. Aber Nelleke erzählt. Vom großen Erdbeben 2011, das viele Menschenleben und soviele Gebäude und Versorgungseinrichtungen zerstört hat. Wir fahren an Grünflächen vorbei, die früher besiedelt waren und nun mit einheimischen Baumarten neu bepflanzt werden - Zerstörung auch als Chance. Ihr Zuhause war nur wenig betroffen und die Familie hat soviel handwerkliche Kompetenz, dass sie schnell reparieren konnten. 3 Häuser nebeneinander an der Strandstraße werden von ihnen bewohnt - Bruder, Mutter und sie. Eigentlich gehört noch ein 4. dazu, das ist vermietet. Vielleicht zieht ja eines Tages doch noch eine von ihren Töchtern hierher, Nelleke wünscht sich das und weiß doch, es wird wohl nicht passieren. Eine Tochter in Holland, die andere - adoptiert - mit eigener Familie und Haus in der Stadt. Der Vater? Vor einiger Zeit nach guter Gesundheit und Tatkraft plötzlich erkrankt, Diagnose unklar. Er möchte nicht im Krankenhaus bleiben, ahnt, dass es nicht mehr lange geht. Das Krankenhaus will ihn nicht nach Hause lassen, hat viele Argumente, warum das nicht möglich sein soll. Als sich dann eine Lungenentzündung entwickelt und noch ein Schlaganfall hinzu kommt, holt die Familie ihn gegen alle Bedenken heim. Alle sind bei ihm, die Enkelin per Skype aus Holland auch. Er atmet ein letztes Mal friedlich aus und geht.
Nelleke ist traurig und gleichzeitig froh, dass mit allen zusammen erlebt zu haben.

Sie beschreibt ihn als jemanden, der auch in ernsten Situationen immer einen Grund zum Lachen gefunden hat und das setzt sich nach seinem Tod für die anderen fort. Der Bruder will den Sarg selber bauen und braucht das entsprechende Maß. Da der Vater herkömmlichen Bandmaßen immer mißtraut und stattdessen eine bestimmte Schnur benutzt hat, wird diese auch jetzt herangezogen. Ergebnis: der Sarg ist ein bisschen zu kurz, ein dickes Kissen muss helfen, den Kopf unterzubringen. Die Familie steht dabei und lacht aus vollem Herzen, dem Vater wäre es eine Freude gewesen. Nun bringen alle zusammen den Sarg das kurze Stück an den Strand. Er hat diesen Ort so geliebt, war dort surfen und Kayak fahren und spazieren und was noch. Hier ist der Platz zum Abschied nehmen von diesem Leben - für den Vater und für alle anderen auch.

Wir hören und spüren und haben feuchte Augen - eine Geschichte empfängt uns in diesem Land. Wie von den allermeisten anderen hier ist es eine Geschichte von Auswanderern. Nellekes Eltern kamen in den 60er Jahren aus Holland, sie war noch ein Kind. Neuseeland ist ihre Heimat geworden. Holland hat sie besucht, mehr nicht. Aber europäisch beeinflusste Namen halten sich, so stellt sie ihre Hündin als 'Ruby' vor, ich ergänze 'Tuesday' und sie staunt. So heißt sie, aber woher ich das wisse? Es geht weiter, die Katze heißt Sid und ich ergänze 'Vicious'. Sie kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus, das ist tatsächlich ihr Name. Mit den sonstigen Gästen hat sie so etwas wohl noch nicht erlebt und glaubt schon an Gedankenübertragung oder andere übersinnliche Phänome. Passiert wohl eher selten, das hier jemand auftaucht, der seit den sechziger Jahren europäische Popmusik verfolgt und bei diesen Vornamen entsprechende Assoziationen hat. Jedenfalls ist wohl auch diese Familie seit den 60er Jahren mit popkulturellen Entwicklungen verbunden. Nelleke ist so Ende der 50er, aber ihr Haarschnitt erinnert etwas an die Punkmode, sie hat ein kleines Tattoo im Nacken, sieht im TV Sendungen über Musiker aus den 70er/80er Jahren. Ihre 80jährige Mutter hat intensiv hennarot gefärbte Haare, wirkt insgesamt sehr unkonventionell und scheint nach einem operierten Hirntumor trotz einiger Einschränkungen "gut drauf" zu sein. Im Laufe der Tage gibt es immer wieder kleine Begegnungen zwischen uns. Von der Welt, die sich dabei auftut, sind wir fasziniert.

Nellekes Tattoo, ihr Profibild bei WhatsApp

Nelleke hat ganz praktisch zwei recht gute Fahrräder! Wir erkunden Christchurch - ein bisschen - und entdecken viele interessante Ecken, Parks und Gebäude, die wir gern besuchen würden, z. B. den botanischen Garten, das Kunstmuseum. Bei letzterem sind einige Exponate drumherum aufgebaut, das Klavier animiert mich zu einem kleinen Konzert ...

Historische Straßenbahn auf der 'New Regent Street'

Im 1. Anlauf schaffen wir das alles nicht, wollen gern am Ende unserer Zeit auf der Südinsel wiederkommen. In der Touri-Info staunt der freundliche Mann über unsere geplante Aufteilung: gut 4 Wochen Südinsel, 6 Wochen Nordinsel. Er rät uns zu 2/3 Süd und 1/3 Nord, so wie es die meisten machen und bringt uns in's Überlegen. Vielleicht den Camper verlängern? Erstmal haben wir uns heute noch verabredet und treffen Florine in einem Café, eine der beiden Holländerinnen, mit denen sich unsere Wege nun schon seit Pulau Weh (August!) kreuzen. Sie wird länger hier bleiben, hat ein Zimmer, Arbeit in der Bibliothek und ein Auto.

Nach einem Ausruhtag mit Strandspaziergang in Rubys ganz unproblematischer und freudiger Begleitung

fahren wir mit den Rädern an die nahegelegenen Berge, nicht sehr hoch, aber gut für einen steilen Aufstieg und einen schönen Blick.

Die durchaus vorhandene Seilbahn würdigen wir keines Blickes, nutzen nur die Gipfelstation für eine Pause. Dann Abstieg auf der anderen Seite zum Hafenort von Christchurch, genannt Lyttleton. Da Christchurch nicht mit dem Schiff zu erreichen ist, wurde in der Zeit der Kolonalisierung alles was zum Aufbau und zur Versorgung der Stadt nötig war, über diesen ca. 500 m hohen Bergrücken getragen (Bridle path), wir wandeln also auf historischen Pfaden. Dass in dieser Zeit die ersten Bewohner Neuseelands, die Maori, rücksichtslos verdrängt, betrogen wurden und durch eingeschleppte Krankheiten und Kriege zu Tode kamen, soll hier nicht unerwähnt bleiben.

Hier fahren wir jetzt mit der Fähre über die fjordähnliche Bucht nach Diamond Harbour und machen dort nach Kaffee/Chai-Tee einen Spaziergang entlang der Klippen mit malerischen Ausblicken auf das Meer.

Nach der Rückkehr bringt uns der Bus durch den in der Neuzeit gebauten Tunnel zurück zu unseren Rädern auf der anderen Seite der Bergkette.

Nächster Tag: Abholung unseres Campers in der Nähe des Flughafens. Lange Busfahrten und mehrmaliges Umsteigen bis dorthin. Die letzte Fahrerin bringt uns mit dem öffentlichen Bus fast bis vor die Tür, super! Verlängerung der Mietzeit wäre möglich, allerdings zu einem höheren Preis. Wir haben ein paar Tage Bedenkzeit.

Unser Gepäck konnte glücklicherweise bei Nelleke bleiben, wir holen es jetzt und verabschieden uns sehr herzlich von ihr und ihrer Mutter, auch von Ruby und Sid. Es war ganz wunderbar in dieser Familie. Besondere Menschen, die einen tollen Platz mit Kunst und Natur, Popkultur und menschlicher Wärme geschaffen haben.

Geli hat die Kontaktdaten von Kiki, Schwester einer Kollegin. Sie wohnt mit ihrer Familie in Christchurch und wir fahren auf einen Kurzbesuch vorbei. Wirklich nett, die 2 Söhne und sie, die wir zuhause antreffen. Ihr Mann ist Neuseeländer und sie haben beide Länder als Wohnort überlegt und ausprobiert. Dann doch Neuseeland. Wegen der entspannten Menschen.

So, jetzt aber weiter, evtl. haben wir ja nur 31 Tage ... Eigentlich als nächstes Hanmer Springs, etwas im Landesinneren, bergige Umgebung, heiße Quellen, soll schön sein dort. Wir nehmen aber einen kleinen unspektakulären Campingplatz auf dem Weg, es ist spät und besonders Gelis Hunger groß. Es gibt belegte Brote mit Tomaten und Spiegelei, bei Geli auch überbackenen Käse. Dort sehen wir einen spektakulären Himmel beim Sonnenuntergang, tolles Licht, sehr klare Luft, irgendwie überirdisch. Ist DAS Neuseeland?

In Hanmer Springs lassen wir uns am nächsten Tag Zeit. Gegen späten Nachmittag ein Gang in die Stadt, einkaufen und was gibt es hier so zu unternehmen? Der Ort und die Umgebung gefallen uns.

Und wieder die klare Luft, der weite Blick, die intensiven Farben. Berge, Grasflächen, Waldstücke, kleine Häuser, hügelige Landschaft, Büsche, Bäume, ein paar Palmen, Wild- und Kulturblumen und Vögel, viele Vögel. Und Ruhe. Menschen und Autos schaffen es nicht, diese Grundruhe wesentlich zu stören. Sie liegt über dem Land, sie gehört zu ihm.

Am Abend wollen wir kochen, aber es fehlen Pfanne, Teller, Besteck im Camper. Zum Glück können wir uns das hier in der Campkitchen ausleihen.

Geli hat am Vorabend nach dem Essen noch abgewaschen, obwohl sie schon total müde war. Dabei ist es passiert, sie hat die Sachen in der Küche des vorherigen Campingplatzes nach dem Abwasch vergessen  ...

Es wird eine Wanderung. Mit der Idee, anschließend die erschöpften Muskeln und Glieder im Thermalbad mit heißem Quellwasser wohltuend zu regenerieren. Und das klappt! Wie mir das immer gut gefällt, laufen wir direkt vom Campingplatz los und fahren nicht mit dem Auto zum Waldparkplatz auf halbem Weg, der uns in der Touristeninformation empfohlen worden war. Dafür ist das Auffinden des richtigen Weges nicht ganz einfach und MapsMe ist an manchen Stellen wieder ungenau. Aber unter Hinzunahme landschaftlicher Gegebenheiten, Himmelsrichtung und irgendwie "magnetisch" ausgerüstetem Ortssinn erreichen wir auf wunderschönen Pfaden mit z. T. sehr steilem Anstieg bei bestem Wetter zunächst einen hohen Wasserfall,

dann einen Gipfel.

Der Gipfel ist nicht der höchste, aber nach kurzer Diskussion beschließen wir zurück zu gehen, um noch rechtzeitig das Thermalbad zu erreichen. Wenn wir das nicht auf gleichem Weg wollen, bleibt nur ein wegen Holzfällarbeiten vorübergehend gesperrter Pfad. Wir wagen es, Freitagnachmittag, und es sind keine entsprechenden Geräusche zu hören. Der Weg ist schön zu laufen, sonnenbeschienen im Freien und dunkel in dicht bewachsenen Abschnitten. Auch gut, denn die Sonne knallt wieder intensiv. Wir bewundern Blumen, die wir zu kennen glauben: Gänseblümchen, Margariten, Löwenzahn, Schafgarbe, Fingerhut, Holunder. 

Ganz am Ende dann doch Waldarbeiten. Der Bagger am großen Weg unterhalb macht letzte Bewegungen, er hat die Stümpfe der wohl schon früher gefällten Bäume auf dem Abhang dazwischen aus der Erde gerissen und alle Büsche und kleinen Bäume gleich mit. Es sieht aus wie auf einem Schlachtfeld. Mir ist schon aufgefallen, dass hier viele Berge/Hügel ganz kahl sind - warum? An anderen Stellen wieder Monokultur mit Kiefern, in Reih und Glied. Wird der ursprüngliche Mischwald abgeholzt, um die Holzindustrie mit schnell wachsendem Rohstoff zu versorgen? Und sind die Berge kahl für Rinder- und Schafhaltung? Das wäre jetzt nicht so toll in Neuseeland. Wir werden uns erkundigen.
Jedenfalls kommen wir ohne Probleme an der nächsten Weggabelung an. Geli meint, nach dem was sie bei MapsMe gesehen hat, wir sollten die Schotterstraße laufen, dann könnten wir eventuell auch per Anhalter weiterkommen. Ich glaube, dass hier kaum ein Auto fährt, wir sind weit abseits. Der Weg durch den Wald erscheint mir 'naturnäher'. Wir laufen die Straße .. und - kaum zu glauben - nach ein paar Metern kommt ein Wagen, der uns auch noch mitnimmt und direkt am Campingplatz absetzt! Wer war's? Ein Engländer aus Cambridge, die Familie hat sich vor Jahren beim ersten Aufenthalt in Neuseeland verliebt, ein Haus in der Nähe gekauft. Sie verbringen jeden Urlaub hier.

Nach ca. 18 km und 1800 Höhenmetern ist das Wasser heiß im herrlich gelegenen Thermalbad (42 Grad!). Ich gehe gaaanz langsam tiefer, dann ist es eine Wohltat - herrlich! Insgesamt gibt es 15 Becken mit verschiedenen Mineralien, u.a. Schwefel, wir probieren fast alle aus. Zu essen gibt es auch in einem Restaurant (Pizza, geht so), für heute sind wir versorgt. Wir schlafen gut und beschließen am nächsten Morgen, weiterzuziehen (mit einem kleinen Umweg zurück zum letzten Campingplatz, um unsere Pfanne etc. wieder einzusammein 😀).